INTERNATIONALEN
LUDOVIC-TRARIEUX-MENSCHENRECHTSPREIS 2012
Premio Internacional de Derechos Humanos Ludovic Trarieux 2012
Internationalen
Ludovic-Trarieux-Menschenrechtspreis 2012
Prêmio Internacional de Direitos Humanos Ludovic Trarieux 2012
Premio Internazionale per i Diritti Umani Ludovic Trarieux 2012
Premiul internaţional
privind drepturilor omului Ludovic-Trarieux 2012
Depuis/Since/Desde/Dal/Seit 1984
“Die Hommage von Anwälten zu einem Anwalt”
“L’hommage des avocats à un avocat ”
“The
award given by lawyers to a lawyer”
“El homenaje de abogados a un abogado ”
“L'omaggio
degli avvocati ad un avvocato”
Der Internationalen
Ludovic-Trarieux
Menschenrechtspreis
2012
Muharrem
ERBEY
(Turkey)
The "Free Muharrem Erbey !" Campaign.
Anwalt Muharrem ERBEY (stellvertretender
Vorsitzender des IHD) seit Dezember 2009 in Haft erhält den Internationalen
Ludovic-Trarieux
Menschenrechtspreis
2012.
Die RAK Berlin richtet im Herbst 2012 die Preisverleihung
in Berlin aus und verknüpft sie, wie bei der Verleihung dieses Preises üblich,
mit einem Kolloquium zu einem menschenrechtlichen Thema. Der Termin wird noch
bekanntgegeben.
Muharrem Erbey, Rechtsanwalt, Vizepräsident des Menschenrechtsvereins IHD
und Präsident der IHD-Niederlassung Amed.
Am 24. Dezember 2009 gegen 5 Uhr wurden auf Veranlassung der
Republikanischen Oberstaatsanwaltschaft in Diyarbakır, einer kurdischen
Stadt im Südosten des Landes, in 11 Provinzen Operationen gegen die Partei für
Frieden und Demokratie (Barış ve Demokrasi Partisi = BDP) und
die Zweigstelle Diyarbakır des Menschenrechtsvereins IHD durchgeführt.
Unter den mehr als 80 Festgenommenen ist auch der Anwalt Muharrem Erbey.
Während die Büros der Zweigstelle durchsucht wurden, durften die Beschäftigten
die Räume nicht verlassen. Alle Dokumente und Computer des Vereins wurden
beschlagnahmt. In diesen Dokumenten steckt die Arbeit von 21 Jahren, die bei
der Aufklärung von Morden unerkannter Täter, Fällen von
"Verschwindenlassen" und Folter eine wichtige Rolle gespielt haben.
Nach der Verhaftung von Muharrem Erbey durchsuchte die Polizei die
IHD-Niederlassung in Amed, um „mehr Beweise zu finden“. Neben
der unrechtmäßigen Verhaftung war auch die Durchsuchung und Beschlagnahmung in
diesem Büro, das in keinem Zusammenhang mit den Anschuldigungen steht, ein
Justizskandal. Die Niederlassung des IHD in Amed war nicht einmal
während der Jahre des Ausnahmezustands durchsucht worden. Muharrem Erbeys
Arbeit ist die eines Verteidigers der Menschenrechte.
Seit Dezember
2009, Muharrem Erbey sitzt als politischer Gefangener im
Gefängnis in der Türkei.
Der IHD ist seit 1986 aktiv und hat einen wesentlichen Beitrag für Respekt
gegenüber Menschenrechten gespielt. Er ist einer der Gründer der
Menschenrechtsstiftung TIHV. Die Bedeutung und Funktion von Menschenrechtlern
ist in internationalen Dokumenten wie der Erklärung zum Schutz von
Menschenrechtsverteidiger der UN aus dem Jahre 1998 dargelegt worden. Die
Erklärung ist auch der Versuch, die Behinderung ihrer Arbeit anzuprangern und
einen besonderen Schutz für Menschenrechtsaktivisten zu erreichen.
Mehr :
Der Brief von Muharrem Erbey wurde uns über Jake
Hess zugeleitet, der die ursprüngliche türkische Version ins Englische
übersetzt hat. Jake Hess studierte in New Hampshire (USA)
Politikwissenschaften, bevor er 2008 nach Diyarbakir (Südosttürkei) ging.
Die Demokratische Öffnung und die Illusion einer
fortschrittlichen Demokratie in der Türkei
- Von Muharrem Erbey,
Vorsitzender der Niederlassung des
Menschenrechtsvereins İnsan Hakları Derneği (İHD) in
Diyarbakır, verfasst im Gefängnis von Diyarbakır -
„Voltaire sagte, „diejenigen, die ihre
Freiheit verloren haben, haben sie verloren, weil sie sie nicht verteidigten.“
Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776, die französische
Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 und die Allgemeine Erklärung
der Menschenrechte der UN von 1948 betonen alle das Recht des Widerstandes
gegen Unterdrückung als ein Grundrecht und eine persönliche Verpflichtung.
Rechte und Freiheit können in jeder Gesellschaft eingeschränkt werden; Die
Frage lautet, in welchem Umfang dies geschieht, und unter keinen Umständen dürfen
diese Einschränkungen den Rahmen der Gerechtigkeit tangieren. Die
Verteidigerinnen und Verteidiger der Menschenrechte und jene, die aus
Gewissensgründen handeln, versuchen, ihrer persönlichen Pflicht nachzukommen,
wenn die Repression zum Machterhalt ausgeweitet und die Gerechtigkeit
destabilisiert wird.
In wirklich demokratischen Gesellschaften und auch in jenen, in denen die
Ausübung demokratischer Rechte nur eine Fassade ist, aufrechterhalten durch
eine Illusion, haben wir Menschenrechtsverteidigerinnen und –verteidiger es uns
zum festen Prinzip gemacht, die Würde und Ehre der Menschen zu verteidigen -
ungeachtet ihrer Abstammung, ihrer Sprache, ihrer ethnischen Identität,
Religion, Klassenzugehörigkeit oder ihres Geschlechts.
Seit seiner Gründung im Jahre 1986 setzt sich der Menschenrechtsverein
(İHD) in der Türkei vehement ein, um den Menschen bei ihrem Streben nach
Freiheit und Gerechtigkeit zu helfen.
23 unserer Mitglieder wurden aufgrund ihrer Menschenrechtsarbeit und ohne
rechtliche Grundlage exekutiert, hunderte Mitglieder, Organisatorinnen und
Organisatoren wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, und die
Organisation wurde mit tausenden Anklagen und Gerichtsverfahren überzogen.
Der Menschenrechtsverein İHD dokumentiert die zügellosen Gesetzesübertretungen,
die in unserer Region begonnen werden mit Faktensammlungen, Berichten und
Beobachtungen, und wir unterstützen die Opfer dieser Gewalt gleichermaßen in
den Gerichtsprozessen, wie auch in ihrem weiteren Streiten um Gerechtigkeit.
Wir teilen unsere Unterlagen mit der lokalen, der nationalen und der
internationalen Gemeinschaft.
Wir kritisieren.
Jenen, die behaupten, die Menschenrechtsverletzungen seien eingestellt, sagen
wir: Nein, sie gehen weiter. Wir waren und sind dadurch Ziel von Anfeindungen.
Der Vorsitzender der Niederlassung des Menschenrechtsvereins İnsan
Hakları Derneği (İHD) in Diyarbakır, der größten Stadt in
der kurdischen Region der Türkei, wurde zuletzt 1995 verhaftet, in einer der
schwersten Zeiten des Konflikts hier. Kein anderer Niederlassungsvorsitzender
wurde in den letzten 15 Jahren verhaftet, obwohl sie mit mehr als 300
Gerichtsverfahren und Ermittlungen konfrontiert wurden.
Ich wurde plötzlich und unerwartet im Rahmen einer einzelnen Ermittlung gegen
mich im Dezember 2009 verhaftet. Gegen mich laufen gegenwärtig keine weiteren
Verfahren oder Ermittlungen.
Menschenrechte sind in aller Munde, fast wie Kaugummi, doch uns bringt man zum
Schweigen.
Als der Stellvertreter des Ministerpräsidenten Bülent Arınç und
Innenminister Beşir Atalay nach Diyarbakır kamen, um sich mit uns zu
treffen, haben wir ihnen mitgeteilt, dass wir die sogenannte „Demokratische
Öffnung“, die die Regierung seit Ende 2008 proklamiert, von Herzen begrüßen und
unterstützen würden. Wir brachten zum Ausdruck, dass wir helfen wollen würden,
um die Initiative in Gang zu bringen, und dass es dringend konkreter Schritte
bedarf, um der Gewalt Einhalt zu gebieten und dem Sterben ein Ende zu bereiten.
Was die kurdische Frage angeht, haben wir hervorgehoben, dass eine Lösung die
Legalisierung der Nutzung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, die
Übertragung der Verwaltungsbefugnisse an lokale Stellen, die Erschaffung einer
bürgerlichen, egalitären, pluralistischen Verfassung und den Zugang von
PKK-Mitgliedern in die zivilgesellschaftliche Politik – ermöglicht durch eine
bedingungsfreie Amnestie - umfassen müsse.
Unsere Arbeit bereitete Unbehagen.
Die kurdische Frage, die das älteste Problem der Türkei darstellt und zahllose
Leben fordert, kann gelöst werden durch die Partizipation und den gemeinsamen,
breitangelegten Einsatz zahlreicher Institutionen, Organisationen und weiterer
Akteure. Die meisten Menschenrechtsverletzungen, die in der Türkei geschehen,
stehen in direktem oder indirektem Zusammenhang mit der kurdischen Frage.
Es hat mehr als 29 erfolgreiche, große kurdische Aufstände in den letzten 205
Jahren gegeben, der erste in Mosul im Jahre 1806. Den 40 Millionen Kurden in
der Türkei, im Iran und Irak und in Syrien werden einfachste Grund- und Freiheitsrechte
vorenthalten, sie werden wahrgenommen als „Menschen zweiter Klasse“, sie sind
Mißhandlungen und Folter ausgesetzt, die freie Ausübung ihrer Sprache und ihrer
Kultur werden unterbunden. Sie haben keine gesellschaftliche Stellung und
können sich nicht in ausreichendem Maß in Behörden und Verwaltung einbringen.
Es ist bezeichnend, dass, obschon die Kurden in der Geschichtsschreibung seit
Jahrtausenden bekannt sind, weder die in den kurdischen Gebieten dominanten
Machthaber, noch die internationalen Kräfte die Kurden anerkennen. Stattdessen
wird die negative Haltung, die den Kurden gegenüber besteht, willentlich
ignoriert.
Ich bin seit dem 24. Dezember 2009 in Haft, seit ungefähr 18 Monaten, weil mir
vorgeworfen wird, ich habe den Staat „im Ansehen geschmälert“, in Reden über
die Menschenrechte und die kurdische Frage, die ich an den UN-Sitz in Genf und
an das englische, das belgische und das schwedische Parlament gerichtet habe;
Beratung von Opfern hinsichtlich ihrer Anträge an den Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte; Vorbereitung von Projekten für Frauen-, Kinder- und
Menschenrechte; Mitarbeit an der Vorbereitung einer bürgerlichen,
pluralistischen Verfassung; Regelmäßige Teilnahme an Pressekonferenzen
verschiedener NGOs, und das auch noch mit Erfolg; „Moralische Unterstützung“
der PKK; Eingebungen an die Staatsanwaltschaft und die Menschenrechtskommission
des Türkischen Parlaments im Namen oder im Interesse der Opfer (tatsächlich
haben die Staatsanwälte diese Schreiben später so dargestellt, als beförderten
sie die Ziele der PKK); und dass ich Mitglied der Türkischen Versammlung der
Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK/TM) sei, einer Organisation, die als
Fortsetzung der PKK bezeichnet wird.
Als ich vor den für meinen Fall zuständigen Staatsanwalt und den Richter
geführt wurde, habe ich alle diese Aktivitäten zugegeben (- mit Ausnahme des
Vorwurfs, ich sei Mitglied der KCK), ich sagte, ich stünde dazu und bereue sie
nicht, und ich habe angekündigt, sie in vollem Umfang wieder aufzunehmen, sobald
ich das Gefängnis verlassen habe.
Im Mai 2010 wurde eine 7500 Seiten umfassende Anklageschrift veröffentlicht.
Die Aktenlage, die sich auf 152 Verdächtige erstreckt, von denen 104 in
Gefängnissen gesperrt auf den Ausgang des Verfahrens warten, umfasst 132.000
Seiten, wenn die ergänzenden „Beweise“ eingerechnet werden; Unter den
strafrechtlich Verfolgten befinden sich 15 gewählte Bürgermeister, zwei
Vorsitzende Allgemeiner Provinzialräte und zahlreiche Politikerinnen und
Politiker. Wir befinden uns jeweils seit 18, 20 oder 24 Monaten in Haft. Die
Vorwürfe gegen mich basieren teilweise auf „geheimen Zeugen“, Falschaussagen
und konstruierte Darstellungen werden verkündet. Am ersten Prozesstag haben wir
erklärt, unsere Erklärungen sowohl in unserer Muttersprache, in Kurdisch, als
auch in Türkisch halten zu wollen. Der vorsitzende Richter hat unsere
Mikrophone abgeschaltet und Kurdisch als „Unbekannte Sprache“ charakterisiert,
und das Verfahren wurde zum Stillstand gebracht und wird hinausgezögert.
Seit die Türkische Republik im Jahr 1923 gegründet wurde, gibt es Bemühungen,
alle ethnischen Identitäten zu homogenisieren - durch Mittel, wie Repression,
Zwangsumsiedlungen, Assimilation, Verhaftungen und widerrechtliche Morde,
durchgeführt durch unbekannte Täterinnen oder Täter.
Das türkische System hat sich stets Neuerungen und Veränderungen verschlossen,
indem es eine konservative Grundhaltung gegen verschiedene Identitäten und
Forderungen nach Freiheit eingenommen hat. Im Jahr 2002 saßen 52.000
Verurteilte und Verdächtigte in türkischen Gefängnissen ein, im April 2011 gibt
es 123.000 Gefängnisinsassen, die meisten von ihnen sind verurteilt.
Weist die Inhaftierung oppositioneller Politikerinnen und Politiker, kritischer
Journalistinnen und Journalisten und von Menschenrechtsschützerinnen und
–schützern darauf hin, dass das türkische Regime totalitär geworden ist? Alle
Entwicklungen werden realisiert im Namen einer fortschrittlichen Demokratie.
Die Akzeptanz der Verschiedenheit ist die Essenz authentischer Gleichheit.
Versuche, die Gleichheit zu unterdrücken, kennzeichnen Ungleichheitsmuster.
Ein wenig mehr Toleranz, Kooperation, Empathie.
Lasst uns nicht vergessen, dass jede und jeder das Recht hat, Einfluss zu
nehmen auf die gesellschaftlichen Entwicklungen und dass dies zu tun moralische
Pflicht ist.
Die Menschen müssen verstehen, eine Wertschätzung gegenüber dem Leid und dem
Schmerz zu entwickeln, die sie für die Freiheit erleiden. Sie
müssen Kraft schöpfen aus den Schwierigkeiten.
Jenen trotzend, deren Herzen versteinert sind, die ihren Haß schüren, die
unerträgliche emotionale Lasten auf ihren Herzen tragen, ziehen wir doch Kraft
und Zuversicht aus dem Wissen um die Freiheit.
Alles für die Gleichheit, die Freiheit und die Gerechtigkeit…“
Rede
von
Bernd
Häusler
Vize-Präsident
Berliner RAK
zur Verleihung des
Internationalen Ludovic-Trarieux-Preises
an Avukat Muharrem Erbey
Sehr geehrte Damen und Herren,
der Ludovic-Trarieux-Menschenrechtspreis wird nicht das erste
Mal verliehen, aber das erste Mal in Berlin. Es scheint daher sinnvoll, in aller
Kürze diesen Preis vorzustellen. Wer war Ludovic-Trarieux?
Was hat die Anwaltschaft mit ihm zu tun? Wie kommt es zur
Preisverleihung in Berlin?
Ludovic Trarieux wurde am 30.11.1840
- als genau vor 172 Jahren - in Aubeterre in der Charante geboren.
Bereits mit 21 Jahren war er Rechtsanwalt in Bordeaux und Mitglied der
dortigen Kammer. Bis 1881 - also rund 20 Jahre - praktizierte er in Bordeaux
und danach in Paris. 1877 wurde er zum Batonnier - zum
Präsidenten - der Rechtsanwaltskammer Bordeaux gewählt.
Trarieux hatte ein bewegtes Leben
nicht nur als Rechtsanwalt, sondern auch als Rechtspolitiker.
So war er 1879 in die Nationalversammlung gewählt worden. Dort setzte
er sich u.a. für den freien Zugang zur höheren Bildung für alle und einen
Bestandsschutz der Gewerkschaften ein. 1885 wurde er als
Justizminister berufen. Dieses Amt bekleidete er
bis 1895. Ganz im Gegensatz zu dem heute in der Rechtspoltik in
Deutschland herrschenden Zeitgeist, Rechtsmittelmöglichkeiten und Verfahrensrechte
auf dem Altar der Ökonomie zu opfern, setzte Trarieux eine extensive
Erweiterung der Rechtsmittelmöglichkeiten in Strafsachen durch. Darüber hinaus schuf er eine deutliche Verbesserung bei
der Entschädigung für erlittenes justizielles Unrecht.
Die letzten zwei Amtsjahre Trarieux's als Justizminister
waren gekennzeichnet von der sogenannten Dreyfus-Affäre. Dies war
nicht nur ein politischer und militärischer Skandal, sondern vor allem
auch ein Justizskandal, der ganz wesentlich auf der Unkultur geheimdienstlicher
Unlauterkeiten beruhte, denen die Justiz bereitwillig folgte. So wurden Ermittlungen
schon von Anfang an in die falsche Richtung gelenkt und die wahren Täter
blieben ungeschoren. Die Aktualität dieses Aspekts müsste uns
in Deutschland angesichts der zahlreichen Untersuchungsausschüsse
zum Wirken der Verfassungsschutzämter geradezu ins Gesicht springen.
Dreyfus blieb auf der Strecke und wurde verurteilt - zunächst.
Nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Justizministers
war Trarieux freier und setzte sich nicht nur als Politiker, sondern
auch als Rechtsanwalt für Dreyfus und den Nachweis von dessen Unschuld
ein. Auf seine Initiative hin wurde 1898 die Liga zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte
gegründet, deren erster Präsident er wurde. Das erste Manifest der Liga
trägt ganz seine Handschrift: Jeder dessen Freiheit bedroht ist oder dessen
Rechte verletzt worden sind, darf sicher sein, Hilfe und Unterstützung
von der Liga zu erhalten. Dreyfus' volle Rehabilitation am 12. Juli
1906 erlebte Trarieux nicht mehr. Er starb am 13. März 1904 in Paris.
Wie ein roter Faden zieht sich Trarieux's Engagement für
die Menschenrechte auf einem sehr hohen und sehr modernen Niveau durch
sein Leben. Mit seiner Forderung des freien Zugangs zur höheren Bildung war
Trarieux der Entwicklung knapp hundert Jahre voraus. Erst am 19.12.1966 beschloss die UN-Vollversammlung den
Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Rechte, der in seinem Art. 13 das Recht auf Bildung als
Menschenrecht aufführt und u.a. den unentgeltlichen Zugang zum Hochschulstudium
fordert. Diesem Pakt ist die Bundesrepublik Deutschland
1973 beigetreten. Wie weit wir von diesen menschenrechtlichen Positionen
in unserem Land entfernt sind, zeigt die aktuelle Debatte über die mangelnde
Schichtendurchlässigkeit unseres Bildungssystems.
Glücklich also die Kammer,
die Persönlichkeiten wie Trarieux zu ihren Mitgliedern zählen kann! Es
verwundert daher nicht, wenn eine Kammer wie Bordeaux schon seit Jahrzehnten
ein Menschenrechtsinstitut hat und dieses in den 1980-er Jahren einen
Menschenrechtspreis von Anwälten für Anwälte ins
Leben rief. Es ist meines Wissens der erste Preis
dieser Art und wohl auch der einzige.
Erster Preisträger im Jahre 1985 war
Nelson Mandela. Zu diesem Zeitpunkt war Mandela noch ein Geächteter,
ein Terrorist, der bereits über 20 jahre inhaftiert und auf einer Gefangeneninsel
vor Kapstadt weitgehend isoliert war. Ein Zusammenbrechen des Apartheitsystems
war zu diesem Zeitpunkt nicht in Sicht. Es war daher eine weitblickende
und eine mutige Entscheidung der damaligen Jury.
In den folgenden Jahren wuchs das Institut
in Bordeaux. Andere Kammern in Frankreich, Belgien und Luxemburg nahmen
die Idee auf und gründeten ihrerseits Menschenrechtsinstitute.
Es entstand der Wunsch nach einem gemeinsamen Dach, und so
entstand das Institut droits de l'homme des Avocats Européens - kurz IDHAE.
Trarieux ist zwar mehr als 100 Jahre tot, aber man sieht, sein Geist wirkt
fort! Und einer, der diese Fackel weitergetragen hat und auch noch immer
trägt, ist Bertrand Favreau, früherer Batonnier der Kammer Bordeaux,
Präsident des Menschenrechtsinstituts der Kammer Bordeaux und jetziger
Präsident des IDHAE.
Wie aber kam die Rechtsanwaltskammer
Berlin zum IDHAE?
Wegen seiner besonderen Situation
stand Berlin zwar immer im Interesse der Weltöffentlichkeit. Mit dem
Fall der Mauer nahm dieses zu; die Zahl der Touristen stieg. Aber das Interesse änderte sich auch. Man wollte sehen,
wie geht das Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands. Und so bekam
die Kammer Berlin immer mehr Auslandskontakte, wobei sicherlich auch
die Hauptstadtfunktion eine Rolle spielte. Einer der
intensivsten Kontakte entstand zu den israelischen Kollegen.
Damit wurde aber auch das dunkle Erbe nationalsozialistischer Vergangenheit,
das ja allen hinlänglich bekannt war, in ganz anderen
Dimensionen erlebbar. So entstand das Buchprojekt
"Anwalt ohne Recht" über das Schicksal jüdischer Anwälte während
der Hitler-Diktatur.
Geschichte ist
aber nur halb soviel wert, wenn man in einer rein historisierenden Betrachtung
verfangen bleibt. Vielmehr kommt es darauf an, Schlussfolgerungen
auch für künftiges Verhalten zu ziehen. Die Rechtsanwaltskammer
Berlin begann daher, eine Verantwortung auch darin gesehen, verfolgten Kolleginnen und Kollegen im Ausland beizustehen.
So kam es in den jahren 1997 und 2000 zu den ersten Prozessbeobachtungen
in Verfahren gegen Kolleginnen und Kollegen in der Türkei,
die sich jedoch eher zufällig ergaben.
Zur
gleichen Zeit wuchs Europa immer weiter zusammen und damit auch dessen
Anwaltschaft. Der frühere Präsident der Berliner Kammer, Kay-Thomas Pohl,
traf dabei auf Bertrand Favreau, der ihm von der Arbeit des IDHAE berichtete.
Es hat nicht viel Überzeugungsarbeit bedurft,
dass die Berliner Kammer dem IDHAE - zunächst - als einfaches Mitglied
beitrat. Es war wohl 2003 oder 2004. Die Preisverleihung
2010 in Bordeaux fand auf Schloß la Brède, dem Familiensitz Montequieus,
statt. Auch dessen Geist lebt noch und es wäre interressant zu untersuchen,
welche geistigen Linien trotz eines dazwischen liegenden Jahrhunderts
von Montesquieu zu Trarieux und letztlich
auch zu Betrand Favreau geflossen sind. Ich war dort
aufgefordert, einige Worte für die Berliner Kammer zu sagen. Ich erwähnte
unser finsteres Erbe aus nationalsozialistischer Zeit und die sich
daraus ergebende Verpflichtung für die Zukunft. Es wäre daher eine
große Anerkennung unserer Bemühungen bei der Bewältigung dieses Erbes,
eines Tages die Preisverleihung in Berlin ausrichten zu dürften. So ist es zu der heutigen Feierstunde hier in Berlin gekommen,
an diesem von den Nationalsozialisten schwer missbrauchtem Ort. Doch
es ist meine tiefste Überzeugung, dass die Gerechtigkeit,
die ohne Achtung der Menschenrechte nicht denkbar ist, das letzte Wort
haben wird, auch wenn es immer wieder Angriffe hierauf gibt und Rückschläge
zu verzeichnen sind.
Nachdem im Mai dieses Jahres die Jury
des IDHAE sich für Avukat Muharrem Erbey entschieden hatte, erfuhren
wir im Juli eher zufällig, dass der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung,
Herr Markus Löning, den Preisträger schon im Juni dieses Jahres in der
Haft besucht hatte, ohne allerdings von dessen Wahl zu wissen. Mir
scheint dies ein Beleg dafür, wie richtig unsere Entscheidung war. Wir
suchten Kontakt zu Herrn Löning und erhielten die Anregung, direkt vor
Ort uns für die Freilassung unseres Kollegen einzusetzen, und die Zusage,
dabei entsprechend unterstützt zu werden.
Herr
Löning hat es nicht nur bei Worten belassen, sondern auch Taten folgen
lassen. So wurden wir bei unseren Bemühungen in Ankara und Diyabakir
von der Deutschen Botschaft unterstützt. Dafür danken für Ihnen,
Herr Löning, vor allem aber für ihre Ermutigung zwar auch Ratschläge
von Diplomaten entgegen zu nehmen, die Angelegenheit aber wie Anwälte
zu handhaben. Das taten wir dann auch und hatten so Gelegenheit
unser Anliegen dem Leiter des Referats für Internationale Rechtsbeziehungen
im türkischen Justizministerium, Herrn Dogan, vorzutragen.
Herr Dogan dankte für die offenen Wort und war uns auch - obwohl nicht zuständig
- behilflich, eine Besuchserlaubnis bei unserem Kollegen Erbey zu
erhalten. Der wichtigste Ertrag dieses Gesprächs mit Herrn Dogan bestand
aber in dem Hinweis auf den beabsichtigten Staatsbesuch unserer Bundesjustizministerin
Ende Oktober in Ankara, der damals noch vertraulich behandelt wurde
und uns gar nicht bekannt war.
In Gesprächen mit Kollegen vom türkischen
Menschenrechtsverein Insan Haklan Dernegi (IHD), dessen stellvertretender
Vorsitzender und Vorsitzender der regionalen Gruppe unser Preisträger
ist, wurden wir über Recht und Rechtswirklichkeit in der Türkei auf dem
Weg nach Europa aufgeklärt. Dies ist ein weites
Feld. Mit diesem Stoff könnte man Seminare füllen.
Nur zwei der vielen Erkenntnis aus diesen Gesprächen will ich hier weitergeben:
Vor
den jüngsten strafprozessualen Reformen wurden Menschen verhaftet,
keinem Richter vorgeführt, in der Haft misshandelt und gefoltert.
70 % bis 80 % von ihnen wurden jedoch nach drei bis
vier Wochen freigelassen. Heute - nach den Justizreformen - werden
die Inhaftierten dem Richter innerhalb von 4 Tagen vorgeführt. Folterungen
oder Misshandlungen wurden nicht bekannt. Dafür
aber sind sie oft jahrelang ohne Anklage in Untersuchungshaft.
Man kann auch legal Unrecht begehen.
Die Sondergerichte - zuständig für
terroristische und seperatistische Taten wurden abgeschaft. An ihre
Stelle traten Strafkammern mit besonderer Befugnis, die die bisherige
Funktion und Arbeitsweise der Sondergerichte uneingeschränkt übernahmen.
Ein neues Etikett reicht nicht, um alte Giftmüllfässer
zu entsorgen.
Wir hatten Gespräche mit dem Präsidenten
und Vizepräsidenten der Barosu Türkiye Barolar Birlirigi Barosu
- der Union der türkischen Rechtsanwaltskammer, die unserer Bundesrechtsanwaltskammer
entspricht -, mit dem Präsidenten und Vorstandsmitgliedern der Rechtsanwaltskammer
Diyabakir und vor allen Dingen ein mehr als dreistündiges Gespräch mit
unserem Kollegen Muharrem Erbey im Gefängnis von Diyabakir. Wir fanden
den Eindruck bestätigt, den uns schon vorher Herr Löning vermittelt hatte:
Ein engagierter und gradliniger Rechtsanwalt, kämpferisch und kreativ.
Denn unser Preisträger ist nicht nur Rechtsanwalt,
sondern auch Schriftsteller und Mitglied des PEN-Clubs.
Mit dem Kollegen Erbey sind fünf weitere
Anwälte in Haft sowie zahlreiche einfache und auch höhere Beamte aus
den Verwaltungen der Stadt Diyarbakir und der umliegenden Gemeinden.
Diyarbakir ist eine
Stadt mit 1,5 Millionen Einwohnern, die eine ähnliche Verwaltungsstruktur
wie Berlin hat. Es gibt einen Oberbürgermeister und mehrere
Bezirksbürgermeister. Alle Bezirksbürgermeister sind in Haft. Nur der Oberbürgermeister ist noch in Freiheit. Gegen ihn wird aber
auch ermittelt. Insgesamt sind 140 Personen
angeklagt, von denen 95 in Haft sind. Einer von Ihnen Muharrem
Erbey.
Nach unserem Besuch in der Haftanstalt
konnten wir uns einen Eindruck von dem Prozess, der gegen ihn und die anderen
140 Angeklagten geführt wird, machen.
Aus dieser Prozessbeobachtung ergebe sich ebenfalls Stoff, mit
dem man Seminare füllen könnte. Auch hierzu will ich nur eine Erkenntnis
aus der Fülle der gewonnenen weitergeben:
Wie kann man einen Prozess, der ein
Mindestmaß an rechtsstaatlichen Prinzipien wahrt, gegen 140 Angeklagte führen, bei dem
das einzig verbindende Element zwischen den Angeklagten die gegen sie
in der Anklageschrift angewandte Strafvorschrift ist, jedem Angeklagten
jedoch gänzlich unterschiedliche Tathandlungen zur Last gelegt werden?
Diese Frage beantwortet sich wohl
von selbst!
Zurück
in Berlin haben wir sofort Kontakt zum Bundesjustizministerium aufgenommen
und von unserer Begegnung mit Herrn Dogan berichtet. In einem persönlichen
Gespräch ließ sich die Bundesjustiministerin unsere Eindrücke und
Erkenntnisse vermitteln. Bei ihrem Staatsbesuch in der Türkei sprach sie dann die Problematik
bei ihrem Amtskollegen an und forderte die Freilassung unseres Preisträgers.
Leider ohne Erfolg.
Ich möchte die Gelegenheit nicht versäumen,
Ihnen liebe Frau Ministerin, dafür zu danken, dass Sie die Anwaltschaft
in diesem wichtigen Punkt so stark unterstützt haben. Ebenso möchten
wir Herrn Löning danken, der uns den Anstoß gab. Ohne seine Anregung hätten wir diesen Versuch wohl nicht
unternommen.
Ich komme zum Ende meiner Ausführungen, auch wenn wir mit
der Sache selbst nicht zu Ende sind. Heute Vormittag hat Herr Löning
Frau Erbey und die Kinder im Auswärtigen Amt empfangen. Er hat dabei
noch einmal den Grund seines Engagements zum Ausdruck gebracht. Herr Erbey
hat stets Opfer und ihre Angehörigen vertreten - egal welcher Seite
sie angehörten - Angehörige von Soldaten, Polizisten, Behördenvertreter
einerseits, aber auch Angehörige verhafteter, verletzter oder gar getöteter PKK-Mitglieder andererseits. Er
hat sich immer für Dialog eingesetzt. Die Herstellung von Verständigung
zwischen den Beteiligten trotz aller Gräben ist
eine der wichtigsten Aufgaben eines jeden Anwalts. Wie könnte einer
dies besser als der, der die Not auf beiden Seiten
kennt. Aus meiner Sicht ist es dabei aber besonders
infam, ihm nun einseitig die Mandate für Angehörige von PKK-Mitgliedern
vorzuhalten, abgesehen davon, dass er nichts Unrechtes getan hat.
Das
Vorgehen türkischer Behörden und Gerichte gegen unseren Kollegen
Erbey, aber auch gegen andere Kolleginnen und Kollegen spiegelt deren
gänzliches Unverständnis von den "Principles on the Role of Lawyers"
wieder. Diese Principles, von den Vereinten Nationen beschlossen,
sind Konsens der Völkergemeinschaft. Die grundlegende Bestimmung, aus
der sich alle weiteren Regeln ableiten lassen, lautet, dass ein Rechtsanwalt
nicht mit seinem Mandanten oder der Sache seines Mandanten identifiziert
werden darf.
Wie
der Kollege Erbey setzen auch wir auf Dialog. So haben wir am 24.01.2012, dem Tag des bedrohten
Anwalts, nicht nur vor der türkischen Botschaft in Berlin wegen der im November
2011 erfolgten Massenverhaftungen demonstriert, wie dies Kolleginnen
und Kollegen in rund 20 Städten in Europa vor konsularischen Vertretungen
der Türkei an diesem Tag taten, sondern auch den Dialog mit dem Botschafter
gesucht und mit dem Gesandten zu den Principles on the Role of Lawyers
geführt. Diesen Dialog werden wir - auch im Geist unseres
Preisträgers - und mit Unterstützung unserer Regierung - so hoffe ich
- fortführen.
Lassen Sie mich
mit einer Liebeserklärung für Diyarbakir, die eng mit dem Preisträger
verbunden ist, schließen. Sollten Sie einmal in die östliche Türkei gelangen,
sollten Sie nicht zögern, diese Stadt, die am Schnittpunkt zweier uralter
Karawanenstraßen gelegen ist, zu besuchen.
Die eine verband den Norden mit dem Süden und die andere den Okzident
mit dem Orient, letztlich Westeuropa mit China. Schon 1.700 Jahre vor unserer
Zeitrechnung, zur Zeit Hammurabis, gab es hier eine Hethiter-Stadt, die
leicht erhöht am Ufer des Tigris lag. Hier begann das alte Zwei-Strom-Land,
das zugleich auch altes bibliches Land ist. Aus
der Römerzeit steht noch eine alte Stadtmauer, die in größerem Umfang
und besserem Zustand erhalten ist als die in Istanbul.
Es gab Zeiten, in denen ein blühendes religiöses
Leben aller drei großen monotheistischer Religionen nebeneinander
in einer Stadt möglich war. Wenn man einen Dialog zwischen Okzident und
Orient führen will, so findet sich hierfür kein besserer Ort als diese
Stadt, die seit Jahrtausenden vom Dialog geprägt ist. Daran
wird auch eine kurzsichtige Politik nichts ändern. Diese Stadt des Dialogs prägt auch heute noch ihre Menschen
und hat unseren Kollegen und Preisträger geprägt, der wie seine Stadt
immer auf Dialog setzen wird. Mit unserer Wahl, den Kollegen Erbey
in diesem Jahr mit dem Ludovic-Trarieux-Preis auszuzeichnen, haben wir
zugleich auch Dialog und Verständnis gestärkt, ohne die Schutz und Verwirklichung
der Menschenrechte nicht denkbar ist.
Rede von
Bertrand FAVREAU
Verleihung
des XVII.
Internationalen Ludovic-Trarieux-Menschenrechtspreises
an
Muharrem Erbey
Warum Mandela ?
Der
Internationale Menschenrechtspreis Ludovic-Trarieux ist vielleicht die älteste
und – natûrlich für uns - dierenommierteste Auszeichnung für einen
Rechtsanwalt. Oftmals imitiert, bleibt er die einzige europäische Anerkennung im Bereich
der Menschenrechte, dessen Dotierung einem Anwalt zugutekommt. Die Idee zu
diesem Preis geht auf einen Ausspruch von Anwalt Ludovic Trarieux (1840-1904) zurück, der 1898 zur Zeit der
Dreyfus-Affäre in Frankreich, die „Liga für Menschen- und Bürgerrechte“
gründete. « Dies war nicht
nur der fall eines einzelnen, der zu verteidigen war, darüber hinaus ging es
um das Recht, die Gerechtigkeit, die Menschlichkeit »
Dieser Preis wird
einem Rechtsanwalt ohne Ansehen seiner Nationalität oder Kammerzugehörigkeit
verliehen, „der sich durch seine Arbeit,
seine Aktivitäten oder sein Leiden um die Achtung der Menschenrechte, um die
Gewährung rechtlichen Gehörs, um die Rechtsherrschaft, um den Kampf gegen
Rassismus und Intoleranz in all ihren Formen verdient gemacht hat. ”
Der Preis wurde
zum ersten Mal am 27 März 1985 Nelson Mandela zugesprochen, der 23 Jahre in den
Gefängnissen Südafrikas verbracht hat. Er wurde am 27. April 1985 offiziell
seiner Tochter übergeben. Dies war die erste Preisverleihung überhaupt von Anwälten in der Welt.
Warum Mandela ? Warum müssen wir
weiterhin gegen Rassismus kampfen ?
Warum muss man dieses immer noch einmal
wiederholen, in ganze Europa, gerade auch hier im Saal des Kammergerichts
Berlin, wo Mitte des vorigen Jahrhunderts so viele Urteile gegen Menschen
gefällt wurden, die nur fur ihre – fur unsere … - Freiheit gekämpft hatten.
Die Xenophobie, die oft mit Rassismus
verwechselt wird, ist genauer gesagt „die Feindlichkeit gegenüber Ausländern,
Fremden, oder allem, was fremd ist.“ Die Anderen…
Jede Theorie und jede Politik, die auf dem
Glauben an die Überlegenheiteiniger Menschen über die anderen basiert, führt zur Vorherrschaft der einen über die
anderen.
Gleich ob in der Theorie oder im Verhalten:
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit haben dieses gemeinsam, dass sie den Anderen
als verschieden, minderwertig oder schlecht ansehen; beide gehören zum Bereich der von Albert
Memmi benannten „Heterophobie“.
Sie beruht auf ein und demselben Vorurteil:
der Überzeugung, dass Menschengruppen verschieden viel wert seien.
Diese Vorurteile gehen einher mit einer
stereotypischen Vorstellung der sichtbaren körperlichen sowie kulturellen,
sprachlichen und religiösen Eigenschaften, die den Mitgliedern dieser Gruppe
zugeschrieben werden.
Diese Vorurteile münden zwangsläufig in
Hass, Ausschluss und Gewaltanwendung, und, als Kollektivverhalten, in einen
institutionalisierten Rassismus von Staats wegen.
Beispiele : das Naziregime, das die Auslöschung einer
ganzen Gruppe anordnete, und das nur aufgrund des „Verbrechens, geboren worden
zu sein“ !wie André Frossard hat gesagt.
Aber auch die Rassentrennung in den Vereinigten Staaten und das
Apartheid-Regime in Südafrika gehörten dazu.
Die rassistische Einstellung ist besonders
in der Zeit der großen Entdeckungen zu finden. Die Begegnung mit einer
unbekannten Welt führte dazu, den Bewohnern der fremden Weltgegenden den Status
als Menschen abzuerkennen.
Diese Einstellung hat sozusagen als Zwilling
aber auch die erste anti-rassistische Erklärung zur Folge, es handelt sich um
die Predigt des Dominikaners Antonio de Monteiros, in 1511 : „(…) Sagt mir, welches Recht und welche Gerechtigkeit es Euch erlauben, die
Indianer in einer solch schrecklichen Knechtschaft zu halten? Sind es nicht
Menschen, menschliche Wesen? „ (Bartolomeo de Las Casas, in Historia de las
Indias).
Bis zum 18. Jahrhundert fokalisiert man sich
auf die Farbe der Haut. Das 19te Jahrhundert schlägt andere Unterschiede vor,
die aber immer auf Diskriminierung abzielen.
Der Rassismus wurde nur von wenigen in Frage
gestellt, darunter der englische Anthropologe Edward Burnett Tylor, der ab 1871
Gebrauch des Begriffs „Rasse“ verurteilt, oder auch der Dichter José Martì, der
in Kuba geboren wurde, einer der letzten Sklavenbastionen in Amerika, und der
sich gegen den Gebrauch von „Bibliotheks-Rassen“ empörte und der ab 1890
wiederholt betont „Der Mensch ist unteilbar“, oder „Es gibt keine Rassen“.
Die UNESCO-Veröffentlichung vom Juli 1950 über die Rasse bekräftigt, dass
die Vorstellung von Unterschieden beim Menschen jeder wissenschaftlichen
Grundlage entbehrt.
Biologen, Genetiker und Paläontologen haben
jeweils bewiesen, dass der Homo Sapiens einen einzigen Ursprung hat und dass
sich nur jedes Individuum vom anderen unterscheidet.
Von der Art des Übels hängt die Arznei ab.
Dieses Übel, der Rassismus, ist im Menschen angelegt. Für die Ethnologie handelt es sich um ein
primitives und regressives Phänomen der Menschheit Andere Wissenschaften sehen
hierin ein irrationales oder unbewusstes Phänomen, wobei der Hass gegen die
anderen im Grunde ein Kampf gegen sich selbst ist oder aus inneren
Widersprüchen und Selbsthass resultiert.
Aus all diesen Gründen also wurde der Preis - 28
Jahren früher - Nelson Mandela zuerkannt, der zu der Zeit wenig bekannt war und
fast vergessen in seinem Gefängnis. Für sechs Jahre mehr…bis 1990. Und, als ich
die riesengrosse Ehre zusammen mit Catherine Lalumière, gehabt habe, diesen
Preis seine Tochter die gekommen ist, um es in seinem Namen zu empfangen,
einzureichen, in dieser Epoche musste man es sich gefallen lassen –
um hier nicht an das Schlimmste zu erinnern – sich als „Handlanger des
Terrorismus“ bezeichnen zu lassen und sich als „Finanzierer der Attentate gegen
die Weißen in Südafrika“ schuldig zu werden, auch von seiner eigenen
Anwaltskammer…“.
Ob Phönix oder Hydra, die Ablehnung des Anderen
kennt immer wieder neue vielgestaltige Erscheinungsformen. Die zwingende
Notwendigkeit, immer wieder aufs Neue die entsprechende Gesetzgebung zu
vervollständigen zeigt, dass der Kampf gegen Rassismus und Xenophobie ständig
weitergeführt werden muss, weil es sich zu allererst um einen Kampf des
Menschen – soziales Wesen oder einfaches Individuum – gegen sich selbst
handelt.
Dieses trifft zu, gleich ob es sich bei „Den Anderen“ um eine Mehrheit handelt,
wie zur Zeit der Apartheid, oder um eine Minderheit, wie die Kurden, die
zwischen mehreren Ländern verstreut leben, in denen sie immer von vielen
anderen unterdrückt werden.
Wir haben gesehen, dass der Kampf der Minderheiten
für ihr Recht sich nicht prinzipiell vom Kampf von Mehrheiten unterscheidet. Es
geht immer um den Kampf des Einzelnen
für die Anerkennung seiner Existenz und seiner Freiheit. Eine universalistische Gesellschaftsauffassung
kann nicht die Grundlage für eine Negierung von Minoritäten sein.
Der Hass gegen den Anderen und die
Diskriminierung von Minderheiten gehen auf dieselbe Art und Weise vor. Dieses
Vorgehen führt eben auch zur Verfolgung der kurdischen Minderheit und zur
Inhaftierung von Anwälten, die ihre Sache vertreten.
Wir glauben dass die kurdische Frage in der
Türkei kann nur gelöst werden, wenn die militärischen Operationen aufhören,
wenn es eine allgemeine Amnestie und wirkliche wirtschaftliche und soziale
Reformen mit Gewähr für individuelle und kollektive Freiheiten gibt. Eine neue
Verfassung ist nötig, demokratischer Pluralismus, Aufnahme von Verhandlungen,
damit die Türkei die legitimen – politischen und kulturellen - Rechte des
kurdischen Volkes anerkennt sowie auch sein Recht auf muttersprachliche
Ausbildung. Nicht vergessen es ist nicht eine Minderheit ,
es ist ein Volk.
Gefängnis. Das Gefängnis von Diyarbakir, das
mit seinen fünf parallel liegenden Trakten wie eine moderne Fabrik aussieht,
ist vollkommen überbelegt.
Die Häftlinge sind in Gemeinschaftszellen
untergebracht, die für 30 Personen gebaut sind. Jetzt hat man bis zu 60
Häftlinge hineingepfercht. Sie schlafen in Kojen, die bis zur Zahl von fünf an
den Wänden hochgebaut sind.
Die Gemeinschaftszellen haben keine eigenen
Toiletten. Die Gefangenen müssen jedes
Mal über den Korridor, um die Gemeinschaftstoiletten zu erreichen.
Für Muharrem Erbey dauert es seit drei
Jahren an. Drei Jahre ohne Gerichtsverfahren ....
Wie könnten wir hier nicht an die Worte des
Dichters Kurt Tucholsky denken , dieses in Berlin
geborenen Nonkonformisten, wenn er schreibt : (in « Haben Sie schon mal »…):
Haben Sie schon mal acht heisse
Stunden
ein Verhör bestanden,
dass Sie nicht verstehn ?
Haben
Sie schon mal die Nachtsekunden
an der Zellenwand vorüberlaufen sehn ?
Haben Sie schon mal ? Und uns ?
Für uns, hier liegt die Botschaft, dass ein anderer Dichter, Hölderlin nach seiner
Reise nach Bordeaux schrieb, in Andenken :
Und die Lieb' auch heftet fleißig die Augen,
Was bleibet aber, stiften die Dichter.
Muharrem Erbey ist eines von vielen
Beispielen für die immer noch anhaltenden Repressionen gegen Kurden. den Anderen… Er schrieb in einem Brief aus einem türkischen Gefängnis diese Worte Voltaires an
seine Mitbrüder: „Jene, die ihre Freiheit
verloren haben, verloren sie, weil sie sie nicht verteidigt hatten.“
Ja !Von Mandela bis
Erbey bleibt dieser Preis sich treu.
Er zeigt einmal mehr, wie Gandhi sagt, dass
der Mensch sich die Freiheit im Gefängnis erkämpft, wenn es keine andere Lösung
gibt.
Deshalb hat die Jury entschieden, sich an
die Seite von Muharrem Erbey im Gefängnis zu stellen und ihm diesen Preis zu
verleihen.
Seit 1984
“Die
Hommage von Anwälten zu einem Anwalt”
Der Internationale Menschenrechtspreis Ludovic-Trarieux wird einem
Rechtsanwalt ohne Ansehen seiner Nationalität oder Kammerzugehörigkeit
verliehen, „der sich durch seine Arbeit, seine Aktivitäten oder sein Leiden um
die Achtung der Menschenrechte, um die Gewährung rechtlichen Gehörs, um die
Rechtsherrschaft, um den Kampf gegen Rassismus und Intoleranz in all ihren
Formen verdient gemacht hat. ”
Dieser Preis ist die älteste und renommierteste Auszeichnung für einen
Rechtsanwalt. Oftmals imitiert oder nachgemacht, bleibt er die einzige
europäische Anerkennung im Bereich Menschenrechte, dessen Dotierung einem
Anwalt zugutekommt. Die Idee zu diesem Preis geht auf einen Ausspruch Ludovic
Trarieux (1840-1904) zurück, der 1898 zur Zeit der Dreyfus-Affäre in Frankreich
die „Liga für Mesnchen- und Bürgerrechte gegründet hat.
Der Preis wurde zum ersten Mal am 27. März 1985 Nelson Mandela
zugesprochen, der 23 Jahre in den Gefängnissen Südafrikas verbracht hat. Er
wurde am 27. April 1985 offiziell seiner Tochter übergeben.
Dies war die erste Preisverleihung überhaupt. Seit 2003 ist er eine
jährlich wiederkehrende Ehrung eines Rechtsanwalts durch andere Rechtsanwälte.
Der Preisträger wird gemeinsam vom Menschenrechtsinstitut der
Rechtsanwaltskammer Bordeaux, dem Institut zur Fortbildung in
Menschenrechtsfragen der Rechtsanwaltskammer Paris, dem Menschenrechtsinstitut
der Rechtsanwaltskammer Brüssel, der Unione forense per la tutela dei diritti
dell'uomo (Rome), der Rechtsanwaltskammer
Berlin, der Rechtsanwaltskammer Luxemburg, der Union Internationale des Avocats
(UIA) und dem Menschenrechtsinstiut der europäischen Rechtsanwälte (IDHAE).
vergeben. Die Verleihung findet abwechselnd in einer der Städte statt, in der
diese Einrichtungen ihren Sitz haben.